Im ersten Panel, das von Hwang Sik Kim, Vorsitzender der Ho-Am Foundation, Premierminister a.D., moderiert wurde, stellte zunächst Dr. Theo Sommer, Editor at Large und Chefredakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“ und Gründungsvorsitzender des Deutsch-Koreanischen Forums, die aktuelle Lage auf deutscher Seite per Videobotschaft vor.
Dr. Sommer ging auf tiefgreifende Einschnitte in Deutschland ein: Mit den Bundestagswahlen im September 2021 gehe nach 16 Jahren die „Ära Merkel“ zu Ende. Gleichzeitig veränderte sich das deutsche Parteiensystem von Grund auf, da die Volksparteien CDU/CSU und SPD mit derzeit jeweils rund 25 % der Wählerstimmen nicht mehr die Mehrheiten vergangener Wahlen erreichten, und mittlerweile mehrere kleinere Parteien im Parlament vertreten sind.
Olaf Scholz, der am 6. Dezember voraussichtlich zum nächsten Kanzler gewählt werden wird, sei unter anderem aufgrund seiner Rolle als Bundesfinanzminister und Vizekanzler politisch erfahren und setze sich trotz zunächst geringer Chancen auf die Kanzlerschaft letztendlich durch, so Dr. Sommer weiter. Es folgte ein Resümee der Kanzlerschaft Angela Merkels, die sich aufgrund der Konfrontation mit zahlreichen Krisen zwar als Krisen- und Reaktionskanzlerin, jedoch nicht als Initiativ- oder Reformkanzlerin auszeichnete. Dr. Sommer sah daher Reformbedarf bei den Themen Gesundheit, Renten, Digitalisierung, Steuern, Bürokratie, Energiepreise und Klimapolitik. Deutschland sei in manchen Bereichen lediglich EU-Durchschnitt oder darunter. Obwohl Bundeskanzlerin Merkel international hohes Ansehen genieße und zeitweise als mächtigste Frau der Welt galt, verdeutlichte Dr. Sommer, dass eine erfolgreiche Nachfolgeregelung versäumt wurde und somit die CDU/CSU einen Bedeutungsverlust erlitt.
Das aktuelle Wahlergebnis sei das Ergebnis einer Wechselstimmung und unterschiedlicher Ansichten in der Bevölkerung, wodurch nun zum ersten Mal seit den 1950er Jahren eine Koalition aus drei Parteien (SPD, Büdnis 90/Die Grünen und FDP) entstehe. Diese als „Ampel“ bezeichnete Koalition sei eine Partnerschaft für Modernisierung und Fortschritt, auch wenn alle Beteiligten Zugeständnisse in den Sondierungsgesprächen machen mussten. Derzeit liefen die Koalitionsgespräche, die bis Ende November 2021 in einem Koalitionsvertrag müden sollen.
Laut Dr. Sommer sei jedoch die Finanzierung der Modernisierungs- und Erneuerungsvorhaben der neuen Regierung unklar, insbesondere da das BIP-Wachstum zuletzt gesunken sei. Auch sei die Realisierung des Bürokratisierungsabbaus unklar. Insgesamt sei Stand 4. November auch nicht festgelegt, welche Ministerien die neue Regierung mit welchen Personen besetzen werde.
Außenpolitik, so Dr. Sommer weiter, brauche jedoch Kontinuität. Für den Indo-Pazifik, einschließlich Südkorea, aber vor allem auch für die Volksrepublik China, benötige es noch eine „Grand Strategie“, die auf handels- und wirtschaftspolitischer Reziprozität basiere. Dr. Sommer versicherte jedoch, dass jegliche Konflikte auch von der neuen Regierung diplomatisch gelöst werden werde. Er schlussfolgerte, dass bei aller derzeitiger Unsicherheit die neue Regierung Deutschlands weiterhin verlässlich sein werde und sich für Frieden, Freiheit, globale Zusammenarbeit und eine regelbasierte, internationale Ordnung einsetzen werde.
Im Anschluss berichtete Frau Sun Uk Kim, Vorsitzende der POSCO TJ Park Foundation und ehemalige Präsidentin der Ewha Womans University, von der aktuellen Lage in Südkorea. Sie fokussierte sich dabei auf drei aktuellen Themen: Corona, Präsidentschaftswahlen und Squid Game.
Südkorea schaffte es durch die mittlerweile weltweit bekannte „K-Quarantäne“, die Neuinfektionen mit dem Corona-Virus rapide zu senken. Die Impfquote läge mittlerweile bei über 70 % und die Regierung lockere die Restriktionen im Sinne von „With Corona“ – ein Leben mit Corona, kontinuierlich. Frau Kim merkte an, dass die koreanische „Test, Track, Treat“-Strategie, die auf den Erfahrungen mit MERS und SARS basiert, zwar erfolgreich die Ausbreitung des Virus verhindere, jedoch auch die Gefahr der Verletzung von Grundrechten bürge. Insgesamt sehe die koreanische Regierung mittlerweile aber auch die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen als wichtig an.
Neben den gesundheitlichen Konsequenzen, so Frau Kim weiter, wurde auch die Weltwirtschaft durch die Corona-Pandemie getroffen. Südkorea verabschiedete sechs Nachtragshaushalte und ein Konjunkturpaket, was in einem Anstieg von 9 % der Gesamtausgaben gegenüber 2019 resultierte. Diese zusätzlichen Ausgaben wurden in Korea jedoch kontrovers diskutiert, insbesondere im Hinblick auf deren Verwendung. Insgesamt verschärfte die Corona-Lage die Ungleichheit zwischen Wissensarbeitern und Dienstleistern, die Ungleichheit der Einkommen sowie die Situation auf dem Arbeitsmarkt.
Als zweites Thema nannte Frau Kim die im März 2022 anstehenden Präsidentschaftswahlen. Derzeit herrsche ein Kampf zwischen Regierungs- und Oppositionspartei um das Präsidentenamt. Zudem gäbe es weitere Kandidaten, beispielsweise der Partei „Neue Welle“. Präsident Moon, der durch seine Versprechen das Vertrauen der Bevölkerung gewann, verlor dieses zuletzt beispielsweise aufgrund von Skandalen seiner Parteikollegen sowie steigender Immobilienpreise. Dies zeigte sich auch bei den Kommunalwahlen in Seoul und Busan, bei denen die Opposition gewann. Insgesamt sei die Bevölkerung gespalten im Hinblick auf einen Regierungswechsel, rund ein Viertel der Bevölkerung sei sogar unentschlossen, welche Partei sie wählen solle. Eine Prognose sei daher derzeit schwierig.
Als letzten Punk sprach Frau Kim die Popularität der Netflix-Produktion „Squid Game“, dessen Handlung sie kurz zusammenfasste, an. Das Drama bräche derzeit sämtliche Zuschauerrekorde. Das Phänomen sei neben den schauspielerischen Leistungen durch die Sympathie und Empathie mit den Protagonisten, welche soziale Ungleichheiten und wirtschaftliche Probleme in der südkoreanischen Gesellschaft widerspiegelten, zu erklären. „Squid Game“ gelte somit als Gesellschaftsportrait und Warnung zugleich. Frau Kim schloss daraus, dass die Solidarität miteinander und der kulturelle Austausch mit Deutschland durch das Deutsch-Koreanische Forum wichtiger denn je sei.
Im Anschluss an die Lageberichte wurden Fragen der Teilnehmer beantwortet.