Licht und Schatten
- Der Versuch einer Bilanz der 16-jährigen Amtszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel -
Von Hartmut Koschyk
Am Abend der Bundestagswahl vom 18. September 2005 hätten es viele nicht für möglich gehalten, dass damit der Grund für eine 16-jährige Regierungszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel gelegt werden würde. Die Union mit ihrer Kanzlerkandidatin Merkel lag mit 35,2 Prozent nur hauchdünn vor der SPD des amtierenden Bundeskanzlers Schröder, die 34,2 Prozent erzielte. Die liberale FDP kam auf 9,8 Prozent, die Linke auf 8,7 Prozent und die Grünen auf 8,1 Prozent.
In einer denkwürdigen Fernsehdiskussion am Wahlabend verwies der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schröder alle Überlegungen, die SPD könnte Angela Merkel als Bundeskanzlerin einer Großen Koalition unterstützen, noch weit von sich. Denkbar wären nämlich auch Koalitionen jenseits der Union zwischen SPD, Linken und Grünen sowie zwischen SPD, Liberalen und Grünen gewesen.
Doch es kam nach zwar sehr schwierigen, aber zeitlich bemerkenswert zügigen Koalitionsverhandlungen am 22. November 2005 zu ersten Wahl Angela Merkels zur Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Sie war die erste Frau in diesem Amt und 15 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung die erste Ostdeutsche in der höchsten deutschen Regierungsposition.
Auch nach ihrer Wahl zur Bundeskanzlerin wurde die promovierte Physikerin wie übrigens auch vor ihrer Wahl von vielen Angehörigen der politischen Klasse, der Medien, der Politikwissenschaft, aber auch im Ausland unterschätzt. Der allgemeine Tenor war: Angela Merkel werde es gerade noch schaffen, die Regierungsgeschäfte einer Großen Koalition im innenpolitischen Bereich mühsam zu managen. Aber auf dem Gebiet der Internationalen Politik werde sie im Gegensatz zu Ihrem Vorgänger nicht ernst genommen werden.
Heute wissen wir, dass gerade das Feld der Internationalen Politik für lange Zeit die Domäne der Kanzlerschaft von Angela Merkel gewesen ist. Auch ihre Kritiker werden nicht bestreiten, dass das weltweite Ansehen von Bundeskanzlerin Angela Merkel stetig gewachsen ist und schließlich ein Niveau wie das von Helmut Kohl erreicht hat.
Was die deutsche Innenpolitik und die davon nicht zu trennende Europapolitik anbelangt, so gab es in der 16-jährigen Amtszeit von Angela Merkel keinerlei Verschnaufpause. Sie übernahm die Regierungsgeschäfte von Gerhard Schröder mit einer Rekordarbeitslosigkeit von über 5 Millionen Arbeitslosen, kaum Wirtschaftswachstum, einer Rekordverschuldung und einem klaren Verstoß Deutschlands gegen die Stabilitätskriterien der gemeinsamen Europäischen Währung. In ihre erste Amtszeit fiel die Weltfinanz- und die europäische Staatsschuldenkrise, die auch ihre zweite Amtszeit maßgeblich prägte.
Bei der Bundestagswahl 2009 erreichte die Union mit Bundeskanzlerin Merkel 33,8 Prozent, die SPD sackte mit ihrem Kanzlerkandidaten und damaligen Vizekanzler und Bundesaußenminister Frank Walter Steinmeier auf 23 Prozent ab, die FDP erreichte ein Spitzenergebnis mit 14,6 Prozent, die Linke erzielte 11,9 Prozent und die Grünen 10,7 Prozent.
Es kam jetzt unter Führung Angela Merkels zu einer Koalition aus Union und FDP, die innen- wie europapolitisch große Anstrengungen unternehmen mußte, die Europäische Union zusammenzuhalten, das Ausscheiden von Mitgliedsstaaten wie Griechenland und Zypern aus der EURO-Zone zu verhindern und das Vertrauen der Internationalen Finanzmärkte in den EURO zu erhalten. Nicht wenige im In- und Ausland haben damals auf ein Scheitern des EURO gesetzt. Es ist wohl das historische Verdienst von Angela Merkel, die mehrheitliche Zustimmung in Deutschland für die EU und den EURO sowie das Vertrauen der Internationalen Gemeinschaft in eine Zukunftsfähigkeit der EU und der gemeinsamen europäische Währung erhalten zu haben.
Als damaliger Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen unter dem Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble habe ich diese Phase deutscher und europäischer Politik hautnah erlebt und weiß noch sehr genau wie vor allem die VR China ihr Vertrauen in die Zukunft des EURO von der Rolle und dem Erfolg der deutschen Bundeskanzlerin in diesen Krisenjahren abhängig gemacht hat.
Die Bundestagswahlen 2013 erbrachten für CDU und CSU das beste Ergebnis in der Kanzlerschaft von Angela Merkel: die Union erreichte 41,5 Prozent und verfehlte knapp die Mehrheit der Mandate. Die SPD erzielte unter Ihrem Kanzlerkandidaten, dem ehemaligen Bundesfinanzminister Peer Steinbrück 25,7 Prozent, die Liberalen verpassten den Wiedereinzug ins Parlament, die Linke kam auf 8,6 Prozent, die Grünen landeten bei 8,4 Prozent.
In dieser Legislaturperiode und der zweiten Großen Koalition der Ära Merkel gelang es erstmals nach Jahrzehnten wieder, einen ausgeglichenen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung vorzulegen, ein historisches Ereignis, das ebenfalls zu den bleibenden Verdiensten der Kanzlerschaft von Angela Merkel gehört. In ihrer 3. Amtszeit kam es aber auch zu der unbestreitbar größten Herausforderung für die Bundeskanzlerin, die unter der Chiffre „Flüchtlingskrise 2015“ bis heute die politischen Debatten in Deutschland und Europa bestimmt. Angela Merkel entschied sich im Sommer 2015 dazu, aus humanitäreren Gründen über 1 Million Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien in Deutschland aufzunehmen, um die Türkei, vor allem aber die südosteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten wie Ungarn, aber auch Deutschlands Nachbarn Österreich im Hinblick auf die dorthin gelangten Flüchtlingsströme zu entlasten. Der Streit über diese Flüchtlingspolitik Angela Merkels bildete eine Zäsur in ihrer Amtszeit, führte sie doch zu harten Auseinandersetzungen in der Union, vor allem zwischen der bayerischen CSU und der Bundes-CDU. Letztendlich verdankt auch die rechtspopulistische AfD diesem Thema den Einzug in alle deutschen Landesparlamente und schließlich 2017 in den Deutschen Bundestag. Aber auch in der Europäischen Union ist der Streit über die Flüchtlingspolitik niemals ganz überwunden worden.
Trotzdem führte die Bundestagswahl 2017 zu einer vierten und letzten Amtszeit Angela Merkels:
die Union erreichte 32,9 Prozent und damit das schlechteste Ergebnis in der Amtszeit der Bundeskanzlerin. Sie ließ die SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten und ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments Martin Schulz aber dennoch mit 20,5 Prozent deutlich hinter sich. Erstmals zog die AfD mit 12,6 Prozent als stärkste Oppositionsfraktion in den Deutschen Bundestag ein. Den Liberalen gelang mit 10,7 Prozent der Wiedereinzug ins Parlament, die Linke kam auf 9,2 Prozent, die Grünen erzielten 8,9 Prozent.
Erneut kam es zu einer Großen Koalition aus Union und SPD, wobei die Bundeskanzlerin sehr schnell deutlich machte, dass es sich um ihre letzte Amtszeit handeln und sie nach 31 Jahren Parlamentszugehörigkeit nicht mehr für den Deutschen Bundestag kandidieren würde. Auch einen Wechsel in ein Spitzenamt auf europäischer oder internationaler Ebene schloss Merkel kategorisch aus.
Die 4. und letzte Amtszeit der Bundeskanzlerin Angela Merkel barg erneut große internationale und nationale Herausforderungen: Donald Trump als Präsident der USA bewirkte eine bis dato nie eingetretene Verschlechterung des Verhältnisses der USA zu Deutschland und der EU, der BREXIT ließ die EU sprichwörtlich an ihre Grenzen stoßen. Die weltweite Corona-Pandemie, jetzt zum Ende ihrer Amtszeit eine Flutkatastrophe bisher ungekannten Ausmaßes und das Drama in Afghanistan ließen aber auch Angela Merkel deutlich an ihre Grenzen gelangen. Das ist nicht jedoch nicht auf eine gesunkenen Wertschätzung in der Bevölkerung und nachlassenden Autorität national wie international zurückzuführen. Gerade die Wahl von Joe Biden zum neuen Präsident der USA gab Merkels internationalem Ansehen wieder neuen Auftrieb, da mit Joe Biden ein „Seelenverwandter“ Merkels ins Weiße Haus einzog. Mit ihm gewann Merkels Ideal einer multilateralen, um die Überwindung von Gegensätzen bemühten Weltpolitik wieder an Konjunktur, wobei sie Deutschland und die EU zwar fest an der Seite der USA verortet sieht, aber trotzdem Spielräume für die Gestaltung der Beziehungen zu Russland und der VR China wahrnehmen möchte.
Das Corona-Management Deutschlands, die Bewältigung der Flutkatastrophe, vor allem aber die Fehleinschätzung der Lage in Afghanistan haben nun einen deutlichen Schatten auf die 16-jährige Amtszeit Angela Merkels gelegt, was im Hinblick auf die „Leucht-Punkte“ ihres politischen Wirkens bedauerlich ist. Herrschte bis zum Frühsommer noch eine Wehmut-Stimmung in Deutschland und eine Art Abschiedsschmerz weiter Teile der Bevölkerung gegenüber Merkel, so nimmt jetzt die Meinung deutlich zu, Merkel habe vielleicht doch zu lange regiert und sei am Schluss ihrer Amtszeit nicht mehr Herrin der Lage. Das alles sind vorerst nur aktuelle Stimmungen und sicher wird sich erst in einem gewissen zeitlichen Abstand eine allgemein akzeptierte Würdigung von Licht und Schatten der 16-jährigen Amtszeit von Angela Merkel ergeben.
Eines aber hat Angela Merkel wie keiner ihrer Amtsvorgänger erreicht: Sie scheidet freiwillig und erhobenen Hauptes aus dem Amt, sie wurde nicht abgewählt oder aus dem Amt gedrängt. Bei allen Wahlen 2005, 2009, 2013 und 2017 war sie die unumstrittene und unangefochtene Kanzlerkandidatin der Union und jeweilige Wahlsiegerin. Ihr großer Vorgänger Helmut Kohl, regierte zwar wie sie 16 Jahre, wurde dann aber durch seinen Herausforderer Gerhard Schröder abgewählt.
Im Hinblick auf Ihre Nachfolge hat sich Angela Merkel deutlich zurückgehalten und auch beim Ringen zwischen den Ministerpräsidenten Armin Laschet (Nordrhein-Westfalen) und Markus Söder (Bayern) um die Kanzlerkandidatur keinerlei Präferenz erkennen lassen. Auch in den laufenden Bundestagswahlkampf wird sich die Bundeskanzlerin nur sehr sparsam einschalten. Im Moment ist der Ausgang der Bundestagswahl und damit die Frage nach der/m nächsten Bundeskanzlerin/er völlig offen.
Noch ein abschließendes Wort zum Verhältnis der Bundeskanzlerin Angela Merkel zur koreanischen Halbinsel:
Das Schicksal des geteilten koreanischen Volkes hat die aus der früheren DDR stammende Angela Merkel immer mit großer Anteilnahme und mit starkem Interesse verfolgt. Zu allen Staatsoberhäuptern der Republik Korea in ihrer Amtszeit hat sie gute Kontakte gepflegt und auch den persönlichen Austausch gesucht. Den Weg der Republik Korea in den Bereichen Wirtschaft, Technologie sowie Digitalisierung, besonders aber auch Koreas Rolle im Rahmen der G 20 hat sie immer mit Sympathie und Bewunderung verfolgt.
Als langjähriger Vorsitzender der deutsch-koreanischen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages und Ko-Vorsitzender des Deutsch-Koreanischen Forums konnte ich mit Angela Merkel oft über unsere bilateralen Beziehungen zu Korea sprechen und sie bei Begegnungen mit koreanischen Politikerinnen und Politikern begleiten. Als Ostdeutsche liegt ihr eine fortschreitende innerkoreanische Annäherung besonders am Herzen. Von koreanischer Seite wurde sie durch die Ehrendoktorwürde der Ewha Frauenuniversität Seoul und den Peace Award der Stadt Seoul geehrt. Das diesbezügliche Preisgeld des Seoul Peace Award hat Angela Merkel für den Aufbau des Netzwerkes „Junge Generation Deutschland-Korea“ zur Verfügung gestellt, weil ihr der Austausch der jungen Generation unserer so traditionell und freundschaftlich verbundenen Länder sehr am Herzen liegt.
Der Autor:
Hartmut Koschyk, geboren 1959, war von 1990 bis 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages und gehörte den Bundesregierungen von Angela Merkel als Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und als Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten an.
Von 1998 bis 2017 war er Vorsitzender der deutsch-koreanischen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages, seit 2006 ist er deutscher Ko-Vorsitzender des von Bundespräsident Johannes Rau und Staatspräsident Kim Dae-jung ins Leben gerufenen Deutsch-Koreanischen Forums.
Hartmut Koschyk gilt durch seine zahlreichen Besuche in Süd- und Nordkorea, aber auch durch seine zahlreichen Bücher und Aufsätze zu den deutsch-koreanischen Beziehungen zu einem der besten Korea-Experten in Deutschland.