[DKF 2022: Rede vom Yoon Young-Kwan] Der Ukraine-Krieg und die Zusammenarbeit zwischen Korea und Deutschland für eine regelbasierte internationale Ordnung

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DerUkraine-Krieg und die Zusammenarbeit zwischen Korea und Deutschland für eineregelbasierte internationale Ordnung

Redevom Yoon Young-Kwan, Professor Emeritus an der National University Seoul,ehemaliger Minister für auswärtige Angelegenheiten und Handel.

Gehaltenam 02. November 2022 im Rahmen des Deutsch-Koreanischen Forum in Berlin.

 

(1). Was der russische Angriff auf dieUkraine für die internationale Ordnung bedeutet

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine ist eingezielter Affront gegen die grundlegenden internationalen Normen, die nach demZweiten Weltkrieg von den Staaten bzw. zwischen den Staaten untereinandereingehalten wurden. Mit dem Ersten Weltkrieg endete die Ära des Imperialismusim 19. Jahrhundert und nach dem Zweiten Weltkrieg war eine neoliberaleinternationale Ordnung fest etabliert. Das wichtigste Prinzip der ·liberaleninternationalen Ordnung ist es, unter der Prämisse der souveränen Gleichheitdie territoriale Souveränität und das Selbstbestimmungsrecht jedes einzelnenLandes gegenseitig zu respektieren. Mit anderen Worten: Egal wie groß ein Landsein mag, es darf in das Hoheitsgebiet eines kleinen Landes nicht mit Gewalteindringen und es sollte das Selbstbestimmungsrecht der Bürger eines kleinenLandes in Bezug auf das politische System und die diplomatische Richtung ihreseigenen Landes beachten. Art. 2 Abs. 4 und Art. 1 Abs. 2 der Charta derVereinten Nationen regeln explizit den Schutz dieser Rechte.

Putin ignorierte diese Regel. Dass die russischenTruppen unter seiner Ägide die Ukraine überfallen, lässt sich damit erklären,dass die Großmacht die territoriale Souveränität und das Selbstbestimmungsrechtdes benachbarten kleineren Landes mit Füßen trat, um ihre Machtaufrechtzuerhalten und auszubauen. Dies bedeutet einen Rückfall in die Ideender imperialistischen Ära vor dem Ersten Weltkrieg. Das Ende des Kalten Kriegesund· die NATO-Osterweiterung bedeuten, dass · sich die überwiegende Bevölkerungder Ostblockstaaten in der Zeit nach dem Kalten Krieg statt für diekommunistische Diktatur für die Demokratie entschied. Dies war ihre endgültigeEntscheidung, die international respektiert werden sollte. Es ist daherdurchaus anachronistisch, das vor dem „Gericht der Weltgeschichte"gefällte Urteil nach der imperialistischen Logik, sprich der Ausdehnung deseigenen Macht- und Einflussbereichs, mit Gewalt zu kippen.

Ein Diplomat aus einem afrikanischen Land verurteiltedas imperialistische Verhalten Russlands aufs Schärfste. In einer Rede vor demUN-Sicherheitsrat vom 22. Februar 2022 verurteile Martin Kimani, BotschafterKenias bei den Vereinten Nationen, scharf den russischen Überfall auf dieUkraine: .Kenia und fast jedes afrikanisches Land haben die Grenzen geerbt. diewir nicht selbst, sondern die westlichen Kolonialimperien ohne Rücksicht aufdie alten Nationen zogen. ( ... ) Hätten wir bei der Unabhängigkeitentschieden, Staaten auf der Grundlage ethnischer, rassischer oder religiöserHomogenität zu gründen, würden wir viele Jahrzehnte später immer noch blutigeKriege führen. ( ... ) Stattdessen einigten wir uns, die Grenzen so zubelassen. wie wir sie erbten. ( ... ) Wir entschieden uns, den Regeln der OAUund der Charta der Vereinten Nationen zu folgen, nicht weil wir mit unserenGrenzen zufrieden waren, sondern weil wir etwas Größeres wollten, das imFrieden entsteht.·

(2). Koreas Position zum Ukraine-Krieg

Auch in Korea gibt es einige Leute, die der Behauptungvon einigen Leuten in der westlichen Welt zustimmen: Die Osterweiterung derNATO, die Russland provozierte. sei die Ursache der gegenwärtigen Krise. Ausder Perspektive des Realismus, eine politische Richtung, die ausschließlichnach der Logik der Macht die Position der Großmächte vertritt. da dieMachtpolitik der Großmächte wesentliche Bestandteile der internationalenPolitik bestimmt, ist diese Behauptung vertretbar. Aber dahinter steckt dieAbsicht, an der internationalen Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg rütteln zuwollen, die auf den Normen u. a. der souveränen Gleichheit, der Achtung der territorialenSouveränität und des Selbstbestimmungsrechts basiert. Außerdem lässt dieseSichtweise die Sicherheitsbedrohung, die die Ukrainer nach der Annexion derKrim 2014 am eigenen Leib spüren, völlig außer Acht, und ihr Recht, sich nichtfür ein autoritäres, sondern für ein demokratisches System zu entscheiden, wirdebenfalls ignoriert.

Korea war ein Opfer der imperialistischen Mächte. dieim Interesse der Ausweitung ihres Macht- und Einflussbereichs kleine Länder zurUnterwerfung zwangen. Japan annektierte Korea (das damalige Kaiserreich Korea).um seinen Machtbereich auszudehnen. und 35 Jahre lang fügte es unserem Volkunsägliches Leid zu. Und heute kritisieren viele Koreaner konservativejapanische Politiker, weil sie sich keiner tiefen Reflexion über dieVergangenheit unterzogen und sich dafür nicht aufrichtig entschuldigt haben.Vor diesem Hintergrund ist es schwer zu verstehen, dass einigen Leuten PutinsUkraine-Invasion nachvollziehbar erscheint, obwohl sein imperialistischesVerhalten an die von Japan begangenen Taten gegen Korea erinnert.

Auch in Ostasien gibt es Anzeichen dafür, dass derGrundpfeiler der regelbasierten internationalen Ordnung zerbröckelt. Dazuzählen Territorialkonflikte im Südchinesischen Meer, die drohende Verletzungdes Grundsatzes der territorialen Integrität durch Gewalt in Taiwan und dienukleare Entwicklung Nordkoreas, die die international vereinbarteNichtverbreitung von Kernwaffen offenbar missachtet. Die politische Führung inChina und Nordkorea dürfte sehr aufmerksam verfolgen, wie die USA und andereNATO-Länder auf die Situation in der Ukraine reagieren und wie derUkraine-Krieg ausgehen wird. Mit anderen Worten: Der Ausgang des Krieges in derUkraine wird schwerwiegende Auswirkungen auf die internationale Politik inOstasien haben, dort wo Korea liegt.

In dieser Hinsicht beschränkt sich der Ukraine-Kriegnicht bloß auf die bilateralen Konflikte, d. h. die Konflikte zwischen Russlandund der Ukraine oder zwischen Russland und den NATO-Staaten. Er ist einfolgenschweres Ereignis, das einen Wandel für die Charakteristika derinternationalen Ordnung mit sich bringt. Der Sieg Russlands soll das Aufkommeneiner Welt bedeuten, in der Macht Recht ist und die territoriale Souveränitätund das Selbstbestimmungsrecht von kleinen Ländern nicht geschützt werden. Wenndas geschieht, werden sich besonders Länder wie Korea, die dem Druck vonGroßmächten ausgesetzt sind, mit einer heiklen Situation konfrontiert sehen.

 

(3). Die Zusammenarbeit zwischen Korea undDeutschland für eine regelbasierte internationale Ordnung

Bundeskanzler Olaf Scholz sagte in seiner Rede am 27.Februar vor dem Bundestag: • Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet:Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es umdie Frage, ob Macht das Recht brechen darf.· Wie er zutreffend ausführte, wirddie regelbasierte internationale Ordnung, die seit dem Zweiten Weltkriegaufrechterhalten wurde, ernsthaft bedroht. Korea und Deutschland solltenzusammenarbeiten, um diese regelbasierte internationale Ordnung zu bewahren undverstärken. Die koreanische Regierung hat sich den internationalen Sanktionengegen Russland angeschlossen und bietet der Ukraine Hilfe an.

Bei der Aufrechterhaltung der regelbasierteninternationalen Ordnung ist eine stärkere Zusammenarbeit zwischengleichgesinnten demokratischen Ländern wichtig. Dafür müssen die Beziehungenzwischen den indopazifischen und den NATO-Staaten verstärkt werden, wobei diePartnerschaft zwischen Korea und Deutschland eine zentrale Rolle spielen muss.

Im Juli nahm der koreanische Präsident Yoon Suk-yeolam Nato-Gipfel in Madrid teil. Sechs Monate nach ihrem Amtsantritt hat die neuekoreanische Regierung „Global Pivot State“ als diplomatisches Ziel festgelegt,sie will in der globalen Diplomatie eine aktivere Rolle spielen. So tritt dieRegierung dafür ein, einen freien und offenen indopazifischen Raum zu fördern,und sie hat sich auch dem lndo-Pacific Economic Framework for Prosperity (IPEF)angeschlossen. Dies bedeutet, dass sich der Spielraum für die Zusammenarbeitzwischen Korea und Deutschland noch erweitern wird.

Der ukrainische Präsident Selenskyj gab jüngstbekannt, dass fast ein Drittel der Kraftwerke in der Ukraine bei den russischenLuftangriffen zerstört worden sei. Darüber hinaus wurden viele Infrastrukturenund öffentliche Einrichtungen in der Ukraine beschädigt. Beim Wiederaufbau derInfrastrukturen bzw. grundlegenden Anlagen muss die koreanische Regierung aktivmithelfen, und diesbezüglich ist eine Zusammenarbeit zwischen der koreanischenund der deutschen Regierung erforderlich. Außerdem sollten beide Regierungeninmitten der sich verschärfenden Spannungen auf der koreanischen Halbinsel aufdie Entspannung und die Etablierung eines dauerhaften Friedens gemeinsamhinarbeiten. All diese bilaterale Zusammenarbeit kann auf der Grundlage derValue-Partner· zustande kommen, die das Ziel der Aufrechterhaltung und Stärkungder regelbasierten internationalen Ordnung teilen.

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